1/7/21
Replik auf:
20 Minuten
Woher die Solidarität? Woher der Hass?

20 Minuten erkennt und beschreibt richtig – auch wenn er abermals als Intensivtäter bezeichnet wird - , dass Brians Posts auf Instagram polarisieren. Solidarität und Unterstützung werden ebenso bekundet wie Kritik, Unverständnis und teilweise auch offener Hass.

(Oberflächliche) Instagram-Forensik

Den Autor treibt nun vor allem die Frage um, warum Menschen mit einem Straftäter mitfühlen. Auskunft gibt ihm dazu ein forensischer Psychiater namens Thomas Knecht. Weshalb genau dieser Psychiater eine relevante oder informierte Aussage bzgl. der Reaktion auf Brian Kellers Instagram Profil haben soll, bleibt offen.

«Es ist ein bekanntes Phänomen, dass Menschen mit einem Straftäter mitfühlen», sagt der Forensiker vom Psychiatrischen Zentrum Appenzell Ausserrhoden. Insgesamt nennt er drei mögliche Beispiele. Die ersten beiden Beispiele spielen in stereotype Narrative der grundsätzlichen Opposition gegenüber Staat und Gesellschaft. So gebe es gemäss Knecht Menschen, die eine Gemeinsamkeit mit Brian spüren, weil sie sich selbst in einer Aussenseiter-Situation befinden. Dann gebe es auch Personen, die eine Abneigung gegen Staatsgewalt haben und in ihm das Bild eines Polizeistaats sehen. So erhielte die Person die Eigenschaften eines Opfers.

Auch das dritte Beispiel (dessen Wortlaut wir bewusst nicht wiedergeben) reproduziert äusserst problematische, misogyne und patriarchale Argumentationslinien: Laut Knecht sei eine extreme und seltene Form der Solidarisierung, wenn Brian als starker Mann eine Faszination und eine sexuelle Anziehung insbesondere auf Frauen auslöst. Dass besonders Frauen als politische Subjekte nicht ernst genommen werden, ist ein bekanntes Deutungsmuster. Handlungen und Haltungen von FLINTQ+ Personen zu sexualisieren und abzuwerten hat nichts mit Psychiatrie zu tun, sondern nur mit Sexismus. Dass die 20 Minuten solche misogyne und patriarchale Aussagen überhaupt reproduziert, ist hochproblematisch.

Solidaritätsbekundungen (so wie Sozialverhalten allgemein) undifferenziert auf drei Ursachen zu verkürzen ist unhaltbar, unprofessionell und schädlich. Dies klammert vollkommen aus, dass Menschen einem politischen Zweck zustimmen können und darüber hinaus absolut in der Lage sind, komplexe Sachverhalte differenziert zu betrachten. Eine Solidaritätsbekundung ist nicht als Zustimmung zu Straftaten zu lesen. Es ist möglich, dass Personen auf Brians Fall und die Missstände solidarisch reagieren und dabei nicht von einem unbewussten psychischen Impuls gesteuert sind, während sie gleichzeitig Straftaten nicht gutheissen. Solidarität mit Brian nur mit (mit Verlaub – halbpatziger) forensischer Psychiatrie zu erklären, stellt die Handlungs- und Meinungsfähigkeit der Angesprochenen auf problematische Weise in Frage. Diese Personen werden so als angebliche Aussenseiter und Staatshasser abgetan. Brian wird indes auch nicht als politisches Subjekt erkannt, sondern wiederum als «Intensivtäter», der illegitimerweise über seine Situation klagt.

Woher kommt der Hass?

Diese Zeitung fragt woher die Solidarität kommt. Sie fragt aber nicht woher der Hass kommt.
Denn damit würde in den Fokus rücken, welche Konsequenzen die mediale Hetze und rassistische Stereotypisierung als «Carlos» bis heute haben. Folge-Fragen nach der journalistischen und ethischen Verantwortung der Medien in Brians Fall werden aber lieber vermieden.