Im Prozesssaal sind einige Vertreter:innen der grösseren Schweizer Tages-aktuellen Medien vertreten. Die Journalist:innen übertragen möglichst in Echtzeit, meist in Form einer Zusammenfassung, die (ihres Erachtens) relevantesten Aussagen bzw. Argumente der Prozessparteien.
Dementsprechend bleiben diese Artikel noch weitgehend unkommentiert. Dies heisst allerdings nicht, dass sich nicht auch in der Auswahl der Zitate, Positionierung der Sprecher:innen und dem allgemeinen Wording bereits Hinweise auf spezifische Darstellungen und Deutungsmuster erkennen lassen.
Der #bigdreams.ch Critical News Ticker Beitrag zum 20min.ch Live-Ticker kann hier auch als Beispiel fungieren, wie die scheinbar objektive Berichterstattung aufgrund von textspezifischen Entscheidungen und bereits existierenden medienübergreifenden Deutungsmuster und Narrative, spezifisch geframed sein kann.
Auch in den Live-Tickern der sogenannten Leitmedien lässt sich das erkennen, wenn auch subtiler.
Der Tagesanzeiger Newsticker (sowie die Newsticker der grösseren Tageszeitungen der Tamedia-Gruppe) dient derzeit vor allem als mehr oder weniger detailliertes Protokoll des Gerichtsprozesses.
Der Newsticker informiert aber auch zur Ausgangslage bzw. Vorgeschichte dieses Prozesses mit einer ganz eigenen Brian-Chronik, die auch auf die mediale Konstruktion von «Carlos» verweist.
In der Chronik wird an gewissen Stellen wiederum nicht klar, was nun als Zitat oder als vom Tagesanzeiger anerkannte Tatsache gilt.
Das Boulevardblatt skandalisiert damit einen zwei Tage vorher ausgestrahlten Dok-Film des Schweizer Fernsehens, der zeigt, wie Jugendanwalt Hansueli Gürber einen 17-Jährigen behandelt, den vorher keine Institution bändigen konnte.
Der Halbsatz «[…] den vorher keine Institution bändigen konnte» ist entweder ein nicht klar deklariertes Zitat oder abermals ein Teil der narrativen Konstruktion von «Carlos» als wilde Kreatur, die es eigentlich zu bändigen gilt.
Es findet auch eine Distanzierung von «Carlos» statt, da das Alias kaum gebraucht wird und Kernaussagen von und über Brian auf ihn als Brian verweisen. Im Newsticker sind auch die relevantesten Prozessakteure als Sprecher:innen vertreten, auch Brians Perspektive wird dargestellt.
Dies ist grundsätzlich nicht überraschend: die Hauptquelle dieser Live-Ticker sind die Aussagen im Prozess und die journalistische Aufgabe liegt genau darin, diesen möglichst mit den real-geäusserten Aussagen übereinstimmend wiederzugeben.
Es ist dennoch wichtig, sich auch mit den Live-Tickern kritisch auseinanderzusetzen. Zukünftige Artikel, Beiträge, Reprotagen beziehen sich unweigerlich auf die Inhalte dieser Live-Ticker. Sind Aussagen resp. Sichtbarkeiten nicht realitätsgetreu oder einseitig wiedergegeben, läuft der mediale Diskurs zu Brian Kellers Fall abermals Gefahr, durch undifferenzierte, reduzierende und schädliche Deutungsmuster letztlich rassistische und menschenunwürdige Haltungen in der Öffentlichkeit wie auch in der Rechtsprechung zu befeuern, anstatt zu dekonstruieren.